von Rafaela Roth

Unter falscher Identität

Verdeckte Recherche ist im deutschsprachigen Raum vor allem durch die aufwändigen und auch umstrittenen Reportagen von Günter Wallraff bekannt. Doch es gibt auch die kleinen Wallraffs. In der Schweiz arbeiten immer wieder Journalisten mit der rechtlich und ethisch heiklen Methode der verdeckten Recherche. Allerdings nur punktuell und ohne langfristig und unter falscher Identität in ein fremdes Milieu abzutauchen.
Die Autorin hat für ihre Bachelor-Arbeit sieben Schweizer Journalisten befragt, die bei ihren Recherchen verschleiern und vorspielen.

Verdeckte Recherche: Ein journalistisches Arbeitsinstrument aus den glorreichen Zeiten des Journalismus? Eine Methode, die nur noch in romantischen Journalistenfantasien vorkommt? Gibt es denn in der Schweiz noch verdeckte Recherche oder ist sie einfach unnötig? Doch, es gibt sie noch. Nur nicht so spektakulär wie sie ein Günter Wallraff für seine grossen Sozialreportagen inszeniert hatte.

Gerade bei Recherchen zu Unternehmen aus der Privatwirtschaft oder beim Konsumentenjournalismus wird nicht selten mit verdeckten Karten gespielt. Etwa dann, wenn Journalisten einen unverfälschten Blick hinter die PR-Kulissen werfen wollen, um beispielsweise Einstandspreise bei Grosshändlern herauszufinden, oder um zu beobachten, wie kompetent Anwälte ahnungslose Bürger beraten, oder um zu testen wie transparent Bundesämter tatsächlich auf Anfragen reagieren und wie einfach man sich eine Doktorarbeit kaufen kann – verdeckte Recherche findet vielfältige Anwendung.

Ein aktuelles Beispiel einer verdeckten Recherche lieferte den Stoff für einen Artikel im «Beobachter». Ein Journalist loggte sich in verschiedene Chat-Räume im Internet unter der Identität einer 15-Jährigen ein, kreierte eine E-Mail-Adresse und ein Personenprofil mit Bild. Er wollte herausfinden, auf welche Menschen Kinder im Internet treffen. «Ich habe dann probiert mich da reinzudenken und etwas die Naive, Verlegene und Überraschte zu spielen», erklärt der Journalist. Die unzweideutigen Angebote seien sehr schnell gekommen.

Es ist nicht selbstverständlich, dass noch verdeckt recherchiert wird, denn Journalisten begeben sich damit in eine Grauzone. Es gilt rechtliche und ethische Klippen zu umschiffen. Der Schweizer Presserat äussert sich in den Richtlinien des Journalistenkodex klar gegen Recherchemethoden der Verschleierung. In Punkt 4.2 bietet er jedoch ein Schlupfloch: «Verdeckte Recherchen sind ausnahmsweise zulässig, wenn ein überwiegendes öffentliches Interesse an den damit recherchierten Informationen besteht und wenn diese Informationen nicht auf andere Weise beschafft werden können.» Doch der Begriff «öffentliches Interesse» bedarf von Fall zu Fall der Auslegung.

Undercoverrecherche birgt auch rechtliche Risiken. Anders als in Deutschland ist ihr Status in der Schweiz noch nicht durch eine dezidierte Rechtsprechung geklärt, wie der deutsche Medienwissenschaftler Michael Haller in seinem Handbuch «Recherchieren» festhält. Vor allem Rechtsbereiche zum Schutze der Persönlichkeit und der Privatsphäre können bei verdeckter Recherche verletzt werden. Bisherige Gerichtsurteile aus der Schweiz, die vor allem den Einsatz von versteckter Kamera betreffen, fielen eher restriktiv aus. Dies könnte Journalisten hemmen, sich an die Methode heranzuwagen. So meint beispielsweise ein befragter Journalist: «Heute muss man damit rechnen, verurteilt zu werden. Die bisherige Rechtsprechung ist nicht ausgelotet.»

Es überrascht also nicht, dass die befragten Experten ihre Grenzen selber eng ziehen. Für alle gilt die verdeckte Recherche als Ausnahmeinstrument, das nur in Betracht gezogen werden darf, wenn kein anderes Recherchewerkzeug zur gewünschten Information führen kann – als Ultima Ratio sozusagen. Zudem sind sich die Experten einig, dass die Täuschung vor der Publikation des Artikels aufgelöst werden und die Intention dahinter dargelegt werden muss. Eine Mehrheit der befragten Journalisten findet, dass verdeckt recherchierte Themen eine hohe Relevanz besitzen müssen und die Wahl der Methode durch ein hohes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden muss. Ein Journalist fasst diese Abwägungen so zusammen: «Grundsätzlich finde ich es wichtig, dass wenn es in einen juristischen Graubereich geht, ich gemeinsam mit dem Verlag eine Güterabwägung vornehme, und vielleicht finde: OK, das öffentliche Interesse legitimiert, wenn man das Gesetz ein bisschen ankratzt.»

Als Gründe, wieso verdeckte Recherche in der Schweiz selten angewendet wird, lassen die Experten weder mangelndes Know-how noch fehlende Zeit gelten. Es brauche nicht enorm viel Zeit für verdeckte Recherche, sondern eher einen Zeithorizont, innerhalb dessen eine verdeckte Recherche laufen kann. Zudem ist natürlich etwas Kreativität erforderlich, um die Methode in den journalistischen Alltag einzubauen. Und es braucht eine mutige Redaktion: «Verdeckte Recherchen sind Geschichten mit grossem Aufwand und unklarem Output», erklärt ein befragter Journalist, «dieses Risiko muss eine Redaktion eingehen können.» Zudem beeinflussen das Recherchebudget und die Ausrichtung des Mediums die Anwendung verdeckter Recherche.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die sieben Journalisten einig waren, dass Undercoverrecherche wichtig ist für den Schweizer Journalismus und keineswegs ein Relikt aus vergangener Zeit. Es lässt sich sogar ein Trend zu einer neuen Art verdeckter Recherche ausmachen. Die befragten Journalisten tauchen nicht komplett und längerfristig in ein Milieu ab, wie Wallraff das gemacht hat. Sie nutzen verdeckte Recherche mithilfe virtueller Identitäten im Internet, fingierter Telefonanrufe und kurzfristiger Rollenspiele und helfen so Missstände aufzudecken. Dies passiert aber dank der starken innerlichen Motivation der Journalisten und weniger durch Förderung der Redaktionen.

Wollte man die verdeckte Recherche als Teil vom investigativen Journalismus fördern, müsste die Technik aber aktiv an Journalistenschulen gelehrt werden. Zudem müssten die rechtliche Situation geklärt und Freiräume geschaffen werden. Und nicht zuletzt braucht es eine recherchefreundliche Redaktionskultur, die den Journalisten Freiraum und Zeit lässt bei der Suche nach der angemessenen Recherchemethoden.

Dieser Artikel basiert auf der Bachelor-Arbeit der Autorin, mit der sie am Institut für Angewandte Medienwissenschaft IAM in Winterthur ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hat. In sieben anonymen Experteninterviews mit namhaften Journalisten der SonntagsZeitung, des Beobachters, des Tages-Anzeigers, der Weltwoche, des K-Tipps und der WOZ ging sie der Frage nach, welche Bedeutung der verdeckten Recherche bei Deutschschweizer Printmedien zukommt, wie sie funktioniert und was ihre Möglichkeiten und Grenzen sind.

Leserbeiträge

Peter Studer 26. November 2011, 11:57

Liebe Frau Roth,

ich halten Ihren Kommentar für fahrlässig. Solange der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Bundesgerichtsurteil BGE 6B_225/2008 „Versicherungsvertreter“ nicht als Verstoss gegen die Medienfreiheit Art. 10 EMRK bezeichnet, wird jeder Journalist mit versteckter Kamera eine (bedingte) Gefängnisstrafe und Kosten für Verfahren, eigenen Anwalt und Gegenanwalt riskieren. Jedes erstbeste Schweizer Gericht wird ihn verurteilen. Das Urteil „Versicherungsvertreter“, das ich für ein Fehlurteil halte, befolgte formalistisch den Art. 197 ter StGB, ohne einen Güterabwägung vorzunehmen, etwa mit dem öffentlichen Interesse oder dem Konsumentenschutz. 179 ter: „Wer als Gesprächsteilnehmer ein nichtöffentliches Gespräch ohne die Einwilligung der andernBeteiligten aufnimmt oder Dritten zugänglich macht“, wird bestraft. Obwohl der „Kassensturz“ das Gesicht des fehlbaren Versicherungsvertreters auf Hausbesuch gepixelt, seine Stimme verstellt und den Namen nicht genannt hatte…- Das müsste Teil der Lehre von der Investigation sein, bitte sehr.
Peter Studer

Rafaela Roth 06. Dezember 2011, 23:39

Lieber Herr Studer,

Ich verstehe Ihren Einwand nicht ganz.
Obenstehender Text ist eigentlich kein Kommentar, sondern ein Artikel, den ich basierend auf den Resultaten meiner Bachelorarbeit geschrieben habe, die ich aus Experteninterviews mit Printjournalisten gewonnen habe.
Meiner Ansicht nach, habe ich eigentlich die rechtlichen Risiken, die mit verdeckter Recherche einhergehen, aufgezeigt und sie nicht im Geringsten ausgeklammert. Ihren Artikel zum Thema: „Verdeckte Recherche – wenn schon, dann mit Augenmass“, habe ich ebenso beachtet wie Ihr und Mayr von Baldeggs Werk „Medienrecht für die Praxis“.

Aber finden Sie nicht auch, dass verdeckte Recherchen im Printbereich rechtlich ganz anders diskutiert werden müssen, als Recherchen mit versteckter Kamera?