von Lothar Struck

Die Toblerone-Republik als Gallierdorf

Die Schweizer Stimmen in deutschen Medien liefern den sich akzentuierenden Stimmen gegen Demokratiedefizite der EU eine willkommene Argumentationshilfe. Im Gegenzug zementieren sie das Klischee des eigenbrötlerischen Kleinstaats.

Die aktuelle Furcht vor dem Urteil des Bürgers im EU-Europa ähnelt dem Widerstand des Grossbürgertums und des Adels im 18. und vor allem 19. Jahrhundert gegen gesellschaftliche Umwälzungen. Gewerkschaftsbildung, Kampf um Gleichheit, Umsetzung bürgerlicher Rechte und die Durchsetzung allgemeiner und freier Wahlen (zunächst jedoch nur für Männer) – all dies galt (in Europa) als spezifisch «linkes» (sozialdemokratisches) Projekt und musste gegen die Eliten der Zeit in teilweise schmerzhaften Kämpfen durchgesetzt werden.

Neben den kontrovers diskutierten Entscheidungen einiger Initiativen in der Schweiz hat nicht zuletzt die Abstimmung zu «Stuttgart 21» Vorbehalte deutscher Meinungseliten gegen die direkte Partizipation des Bürgers an politischen Entscheidungen wieder genährt. Selbst Jürgen Habermas, deutscher Vordenker deliberativer Demokratie, hat in seinen jüngsten Überlegungen zur Verfassung Europas Abstand von seinen früheren Forderungen nach einer Legitimation der Europäischen Union durch die Bürger genommen, in dem er stillschweigend die bestehenden Institutionen der EU, die gemeinhin als demokratie-defizitär angesehen werden, akzeptiert und nur sanft verändern möchte. Habermas scheint der der Glaube an die Überzeugungskraft des Arguments im politischen Diskurs verlassen zu haben. Einem Glauben, der einst im Zentrum der von Karl Otto Apel und ihm entwickelten Diskursethik stand und als Quelle für Legitimation für politische Entscheidungen gesetzt wurde.

Hürlimann und das Schulz-Interview

Statt «herrschaftsfreier Diskurs», in dem politische, soziale, ökonomische Entscheidungen «im Gespräch» (Hans-Georg Gadamer) getroffen werden und dadurch Legitimität erhalten tritt in einer Allianz zwischen Meinungsführern und Politikern ein demokratisch höchst zweifelhaft legitimierter politischer Paternalismus. Droht dessen Kraft zu versiegen, bleibt nur die Drohung. Im Fall der Masseneinwanderungsinitiative macht Thomas Hürlimann das Interview mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz, der am Wahltag in der NZZ der Schweiz unverhohlen mit Konsequenzen drohte, sollte sie sich für die Initiative aussprechen, als einer der Gründe für das von der EU unerwünschte Ergebnis aus. Schulz selber meinte im Nachgang zur Abstimmung in der «Zeit», dass er das Interview lieber nicht gegeben hätte.

«Der Kapitalismus und die EU hatten es sich abgewöhnt, sich legitimieren zu lassen», schreibt Alan Posener in seinem kritischen Kommentar zum scheinbar «liberale[n] Aufbäumen gegen Brüsseler Bürokraten und gutmenschliche Zumutungen», welches sich in der Masseneinwanderungsinitiative gezeigt bzw., so Posener, nicht gezeigt habe. Es ist diese Haltung, die Köppel im deutschen Fernsehen gegen Politiker und Interessenvertreter einnimmt, die sich auf scheinmoralische Argumentationen zurückziehen, die eine Minderheiten- oder gar Elitemeinung als legitimer herausstellen als ein Mehrheitsvotum.

Ein Patriot ist in Deutschland ein Affront

Der gravierendste Unterschied zu den anderen, von deutschen Medien herangezogenen Schweiz-Erklärern: Köppel geriert sich als Patriot, etwas was für Deutsche durch Verweis auf den Nationalsozialismus immer noch fast unmöglich gilt. In einem Gespräch mit Ronnie Grob für dieses Magazin definierte Köppel den Schweizer, in dem er sich auf den grossen Schriftsteller Gottfried Keller bezog: «Ein Schweizer ist gemäss Keller ein Mensch, der die Gesetze der unabhängigen Demokratie Schweiz liebt.» Damit wird der Dichter des 19. Jahrhunderts, der durchaus mit seiner geliebten Schweiz gehadert hatte, zum Vordenker der SVP gemacht.

Angespielt wird auf den Begriff der «Willensnation», der im 19. Jahrhundert entwickelt wurde. Eine «Willensnation» ist ein freiwilliger Zusammenschluss ethnisch unterschiedlicher Bürger mit einem gemeinsamen Ziel. Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für eine Willensnation. 1979 schlug der Soziologe Dolf Sternberger für ethnisch eher heterogene Gesellschaften, die sich kaum oder wenig als «Nation» oder «Volk» definieren können – oder wollen – vor, sich in einen «Verfassungspatriotismus» zu begeben. Ursprünglich für Nationen wie die USA oder eben die Schweiz konzipiert, nahm der deutsche Philosoph Jürgen Habermas die Idee nach der sogenannten Wiedervereinigung mit der DDR 1989/90 für Deutschland wieder auf.

Ein Verfassungspatriotismus auf das deutsche Grundgesetz sollte als Narkotikum wider eines neu entstehenden unheilstiftenden Nationalismus prophylaktisch verordnet werden. Der durch Nazismus kontaminierte Begriff des Patriotismus, der allzu leicht mit übersteigertem Nationalgefühl verwechselt werden bzw. in dieses abgleiten könnte, würde ersetzt durch die Identifikation des Bürgers mit den Werten und Institutionen, die in der Verfassung festgeschrieben sind. Die Abstammung des Bürgers wäre sekundär; Schwüre auf «Land» oder «Volk» würden entfallen zu Gunsten des Bekenntnisses auf die Werte der Verfassung. Diese Idee hat sich nicht durchgesetzt. Habermas hat dann später vorgeschlagen, den Verfassungspatriotismus in Bezug auf die Europäische Union anzuwenden, was ebenfalls als gescheitert betrachtet werden muss, da eine Identifikation mit einer unübersichtlichen und intransparenten Organisation wie der Europäischen Union, die die Partizipation der Bürger mit Argwohn betrachtet, unmöglich erscheint.

Angriff auf die Demokratiedefizite der EU

Ohne es entsprechend zu artikulieren, ist in der Willensnation Schweiz der Verfassungspatriotismus ein elementarer Bestandteil und klammert die unterschiedlichen Volksgruppen zusammen. Dieser Bezug wird, entgegen der landläufigen Meinung, nicht ausschliesslich durch sogenannte rechtspopulistische Kräfte hergestellt. Wenn sich Figuren wie Köppel hierauf immer wieder berufen, stellen sie rhetorisch geschickt die demokratische Kultur nicht nur anderer Nationen wie Deutschland indirekt infrage, sondern greifen zumeist auch direkt die Demokratiedefizite in der EU an.

Dem mehr und mehr durch Währungs- und Wirtschaftskrisen gewarnten, unzufriedenen EU-Bürger, der lieber als Skeptiker diffamiert wird statt ihn argumentativ als Anhänger zu gewinnen, erscheint die einst hochmütig als provinziell verschriene Schweiz plötzlich als fortschrittlich. Auf einschlägigen Karten Europas wird die Schweiz als Binnenland zumeist als grau hinterlegte, aber eben deutlich sichtbare Enklave gezeigt, was bedeutet: Sie gehört nicht der EU an. Und in sozialen Netzwerken zirkuliert inzwischen eine Adaption der Landkarte des berühmten Asterix-Comics, in denen die Schweiz augenzwinkernd, aber durchaus auch selbstbewusst als heroisches Bollwerk gegen die Anmassungen der Brüsseler EU-Bürokratie wie weiland das gallische Dorf gegen die Übermacht des römischen Imperiums dargestellt wird. Man mag dieses zuweilen emphatische Bild als ein «Träumen von der Toblerone-Republik» verspotten. Aber für viele Deutsche ist die Schweiz trotz der vielleicht gelegentlich merkwürdigen Entscheidungen nicht nur zu einem touristischen Sehnsuchtsland sondern auch als Hort der Demokratie entdeckt worden. Es ist ein Land, in dem die einzelne Stimme des Wahlbürgers noch eine Relevanz besitzt. Es ist ein fremdes Land. Und daher vielleicht so interessant geworden.