von Lothar Struck

Schriftsteller als Schweiz-Erklärer

Deutsche Medien berufen sich gerne auf authentische Quellen, wenn es um ihr Verhältnis zu den Nachbarländern geht. Als Schweiz-Erklärer präsentieren sie gerne Schriftsteller und Schreiber, von A wie Adolf Muschg bis Z wie Jean Ziegler.

Die Aufgabe der ausländischen Geistesgrössen in deutschen Medien ist klar: Zum einen sollen sie zeigen, dass Deutschland sich nicht anmasst, über die (kleineren) Nachbarn als Besserwisser zu urteilen. Zum anderen wird herausgestrichen, dass die Meinung, die man in der Redaktion vertritt und die in suggestiven Formulierungen anklingt, eben auch von Niederländern, Österreichern oder Schweizern vertreten wird, wenn es um diese Länder geht.

Dabei kommt den Deutschen insbesondere was die beiden südlichen Alpennachbarn angeht eine lange Tradition zu Gute. So waren und sind die grössten und wortgewaltigsten Österreich-Kritiker traditionell selber Österreicher. Die Liste strotzt vor grossen Namen – von Karl Kraus über Helmut Qualtinger und Thomas Bernhard bis zu den Zeitgenossen Gottfried Helnwein, Manfred Deix oder der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Sie und viele andere werden und wurden immer gerne zitiert, wenn es darum ging, das Österreich-Bild für Deutschland zu kommentieren.

Auch was das Bild der Schweiz angeht, bediente und bedient man sich gerne bei Schweizern. Die Schriftsteller Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt begannen in den 1960er Jahren die unbewältigte Vergangenheit der Schweiz insbesondere während des Nationalsozialismus zu befragen. Die Schweiz war zwar formal politisch neutral, passte sich jedoch Nazideutschland an. Schweizer Banken ermöglichten Geldwäsche von enteigneten jüdischen Vermögen und wickelten Devisen- und Finanztransaktionen für das Deutsche Reich ab. Die unheilvolle Tradition der durch das Bankgeheimnis gedeckten Geheimkonten von politischen Diktatoren formt das Image der Schweiz bis heute. Ferner wurde die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz kritisiert. Die kritischen Stellungnahmen Schweizer Intellektueller ihrem Heimatland gegenüber zeigte einerseits an, dass Anpassung kein spezifisch deutsches Phänomen gewesen war und entlastete damit indirekt auch ein wenig die Deutschen, lieferte andererseits aber den Beleg für die permanent kritische Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Geschichte.

In den 1980er Jahren gab es mit dem Journalisten Niklaus Meienbergder «gefürchtete Bewunderte», wie ihn der ehemalige Kollege Fredi Lerch nannte, einen brillanten Polemiker, der das Bild einer Schweiz in den Händen einer politisch verkrusteten Geldaristokratie vermittelte. Wolfgang Schreiber lobte in der Süddeutschen Zeitung Meienberg als «Radikaldemokrat, Kämpfer, Nestbeschmutzer, Poet». Das Attribut «Nestbeschmutzer» gilt in deutschen Medien beinahe als Auszeichnung. Während Frisch ausser Landes ging und seine Landsleute mit Provokationen wie der Abschaffung der Schweizer Armee malträtierte, rüttelte Meienberg wuchtig am Saubermann-Image des Landes. Meienbergs Furor war das, was man heutzutage authentisch nennt. Er war ein Gerechtigkeitsfetischist. Sein Freitod 1993 gilt allgemein als Verzweiflungstat.

Für die dunklen Seiten der Schweiz ist seit jeher Jean Ziegler zuständig, der sich inzwischen vom Gewissen der Schweiz zum Weltmoralisten empor gearbeitet hat. Offiziell wird er als «Soziologe» geführt; ihn als «Populisten» bezeichnen, kommt ausser seinem Biographen Jürg Wegelin niemandem in den Sinn, obwohl Ziegler mit seiner perfekten Empörungsrhetorik nahezu alle Kriterien erfüllt.

Mit grösserem Differenzierungsvermögen als Ziegler ausgestattet sind mit Adolf Muschg und dem bereits angesprochenen Thomas Hürlimann zwei weitere als Erklärer häufiger agierende Protagonisten aus der Schweiz. Als Schriftsteller füllen sie vor allem die Feuilletonseiten deutscher Printmedien. Muschg ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und hatte sich in den 1970er Jahren einige Zeit lokalpolitisch engagiert. Er hat was das Image des Nestbeschmutzers in der Schweiz angeht längst die Nachfolge seines 1991 verstorbenen Kollegen Max Frisch angetreten. 1997 nannte Blocher Muschg einen «Volksfeind», was zusätzlich als eine Art Ritterschlag unter deutschen Feuilletonisten gilt. Sein politischer Ansatz ist ähnlich schweiz-, globalisierungs- und marktkritisch wie der von Ziegler. Der Unterschied liegt in Muschgs europaphilem Denken: Er propagiert einen neuen Weg für Europa; jenseits von Turbokapitalismus und Wachstumsdenken. Damit passt Muschg perfekt in den sich seit 2008 zunehmend kapitalismuskritisch gebenden Mainstream der deutschen Publizistik. Die Weltwirtschaft untergrabe, so Muschg, die Kultur Europas. Ein institutionell sich neu bildendes Europa müsste sich jedoch genau darauf, auf seine Kultur, besinnen.

Der Begriff taucht in seiner vielbeachteten Rede im 3. Oktober 2012, dem deutschen Nationalfeiertag, ein Dutzend Mal auf. Eine präzise Definition unterbleibt jedoch. Lediglich eine Trivialisierung des Begriffs «Kultur» lehnt er ab. Wie selbstverständlich geht er wohl davon aus, dass sich die Schweiz langfristig nicht wird isolieren können. Da wäre es besser, sie bringe ihre Stärken ein. Muschg sieht in den föderativen Strukturen der Schweiz ein Zukunftsmodell für die Europäische Union. Er spricht von «Schweizer Errungenschaften», die «gemeinschaftsdienlich und europanützlich» einzubringen seien und plädiert offensiv für einen europäischen Bundesstaat. (Mit ähnlichen Thesen haben sich inzwischen sogar einige europäische Ökonomen anfreunden können.) Muschg geht deutlich weiter als die meisten amtierenden EU-Regierungschefs und viele deutsche Intellektuelle. Sein Traum vom europäischen Bundesstaat ist in Deutschland sowohl in den Medien als auch bei den Politikern eine Minderheitenmeinung und gilt als politisch nicht durchsetzbar.

Thomas Hürlimann, 1950 geboren, hat eine dezidiert andere Sicht auf die Schweiz und das Verhältnis zur Europäischen Union. Im Gegensatz zum krawalligen Ziegler und dem sanften Visionär Muschg nimmt Hürlimann eine wertkonservative Mittelposition ein, plädiert zwar für eine weltoffene Schweiz, lehnt aber die EU ab. Im bereits erwähnten Offenen Brief von 2009 an Peer Steinbrück erklärt Hürlimann: «Im Verhältnis zur EU zeigt sich unsere Verschiedenheit drastisch. Sie träumen, wir rechnen. Sie bauen auf die Zukunft, wir pochen auf die Vergangenheit.» Er wendet dieses allgemein gehaltene, dennoch Repräsentation beanspruchende Statement flugs auf sich selbst an und verkündet pathetisch: «…solang ich lebe, das ist mein Rütlischwur, werde ich mit jenen sein, die zu verhindern suchen, dass sich die Schweizerische Eidgenossenschaft einer Brüsseler Politbürokratie, die sich mehr und mehr dem sowjetischen Vorbild angleicht, unterwerfen muss.» Vor einigen Wochen schrieb Hürlimann in gleicher Sache knapp: «Ich glaube nicht an das Überleben des supranationalen Gebäudes namens Europa».

Er sagt es nicht explizit, aber der Schluss liegt nahe: Die Europäische Union, deren Bürokratismus auch deutsche Intellektuelle wie Hans-Magnus Enzensberger pointiert kritisieren, ist nur der sichtbare Auslöser für das Unbehagen in der Schweizer Bevölkerung, welches sich dann in der vermeintlichen Anfälligkeit für komplexitätsreduzierende Parolen und Initiativen zeigt. Er liegt damit fast auf der Linie des britisch-deutschen Journalisten Alan Posener, der in der Zustimmung zur Masseneinwanderungsinitiative eine Abstimmung «gegen den globalen Kapitalismus, gegen offene Märkte und die Zumutungen einer kosmopolitischen Welt» sieht.

Dennoch passt Hürlimann nicht in die Kategorie der Schweizhasser. Er bekannte sich sogar als «Schweizer Patrioten», der immer wieder aufs Neue feststellt, dass Schweizer und Deutsche «auf verschiedenen Planeten wohnen». Dabei wird immer darauf hingewiesen, dass Hürlimann einen Zweitwohnsitz in Berlin hat, was als zusätzliches Kompetenzkriterium gilt. Hürlimann bedient für die deutschen Medien perfekt das Bild des etwas kauzigen, aber doch auch kosmopolitischen Schweizers. Er ist zwar schweiz-kritisch, aber seine Kritik an dem Land fällt moderat aus, er befragt nicht die Mythen des Landes und stellt nicht bei jeder Gelegenheit die Schweiz als zweifelhaften Finanzplatz dar. Der Furor der anderen ist ihm fremd. Dabei bedient er das Bild des bedachten, liberalen und selbstbewussten Schweizers.