von Carmen Epp

Medien als Wahlhelfer

Es gibt eine journalistische Darstellungsform, die mir seit geraumer Zeit Kopfzerbrechen bereitet. Was ist eigentlich ein Leitartikel und wie passt er zum Selbstverständnis der Medien? In der Debatte rund um die Verantwortung der Medien für den Ausgang der Abstimmung über die  SVP-Einwanderungsinitiative lohnt sich ein kritischer Blick auf dieses besondere Gefäss – und damit auf das Spannungsfeld zwischen Journalismus und Politik.

Ein Leitartikel sticht als besondere Art von Kommentar hervor: Er ist meist prominenter platziert und länger als andere «normale» Kommentare. Und er gibt nicht einfach die Meinung eines einzelnen Journalisten wieder, sondern jene der Redaktion oder des Medienhauses insgesamt. Ein Leitartikel wird so gewissermassen zur «Flagge einer Zeitung».

In einem Leitartikel kommentiert der Journalist jeweils ein aktuelles oder allgemeines Thema. Dabei stellt er entweder die verschiedenen Argumente einander gegenüber, zeigt Risiken und Chancen eines Themas auf, ohne ein abschliessendes Urteil zu fällen. Oder aber er entscheidet sich klar für oder gegen eine Seite.

Mich beschäftigt vor allem die politische Parteinahme – Leitartikel, in denen ein Journalist mit einem eindeutigen Urteil dezidiert Stellung bezieht. Diese Art von Kommentar ist im Sinne einer Einladung zur Diskussion – eine klare Position provoziert Gegenpositionen – durchaus legitim, wenn es um allgemeine, gewissermassen zeitlose, gesellschaftliche Themen geht. Denn dann trifft der Leitartikel auf fruchtbaren, offenen Boden; der Leser muss keine Entscheidung treffen und kann das Meinungsangebot konstruktiv aufnehmen.

Diese Ausgangslage ändert sich grundlegend in einer Phase der politischen Entscheidungsfindung, namentlich vor Abstimmungen oder Wahlen. Dann wird der dezidiert urteilende Leitartikel meines Erachtens problematisch. Weil er in diesem Fall vom Deutungsangebot gewissermassen zur Wahlempfehlung wird – und der Journalist quasi zum Politiker. Was letztlich der Aufgabe des Journalismus widerspricht, zumindest so, wie ich ihn verstehe.

Journalismus soll es dem Bürger ermöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden; selber zu entscheiden, ob er etwas gut oder schlecht findet, ob und was er auf seinen Stimmzettel schreibt. Journalismus soll die Menschen mündig machen. Bei Leitartikeln mit klarer Wahl- oder Abstimmungsempfehlung aber unterschätzt der Journalist beziehungsweise das Medium die Menschen. Und überschätzt letztlich sich selber. Das ist der Grund, wieso mich die von Medienprofessoren angestossene Diskussion nach der Abstimmung vom 9. Februar so sehr irritiert. Und zwar nicht inhaltlich – welche Medien nun tatsächlich für oder gegen die Einwanderungsinitiative der SVP angeschrieben haben, ist meines Erachtens einerlei.

Mich irritiert vielmehr, mit welcher Selbstverständlichkeit Medien zu den politischen Playern gezählt werden. Man diskutiert nicht mehr nur, welche Parteien, Verbände und Interessengruppen sich nun wofür eingesetzt haben und wie. Und was fast noch bezeichnender ist: Die Medien gefallen sich offenbar in dieser Rolle. So diskutieren sie nun lediglich, welche einzelnen Titel in welchem Mass zum Ja zur Einwanderungsinitiative beigetragen haben und weisen den schwarzen Peter von sich. Anstatt – was meines Erachtens wichtiger wäre – die Rolle als politischer Akteur infrage zu stellen.

Versteht mich nicht falsch: Ich weiss, dass Journalismus immer auch zur Meinungsfindung beiträgt und beitragen soll. Was das Stimmvolk weiss, weiss es aus den Medien, jede Meinungsfindung ist letztlich medial beeinflusst. Umso wichtiger scheint mir eine gewisse Zurückhaltung. Gerade vor Abstimmungen sollten Medien sich auf ihre eigentliche Aufgabe besinnen: den Bürger mündig zu machen. Und das gelingt am besten, wenn möglichst ausgewogen berichtet und kommentiert wird. Das ist keine unrealistische Forderung. Bei Schweizer Radio und Fernsehen gilt folgende Spielregel: «Je näher der Abstimmungs- oder Wahltermin, desto dominanter ist das Ausgewogenheitsgebot.»

Zu politischen Fragestellungen gibt es in der Regel ein breit gefächertes Meinungsspektrum. Wenn Medien helfen wollen,  die Wirklichkeit zu verstehen, müssen sie das umfassend abbilden. Andernfalls wird ein befremdliches Bild gezeichnet: Hier die ahnungslosen Leser, dort die allwissenden Medien, die sagen, was richtig und was falsch ist. Damit wird der Journalismus seiner Rolle nicht gerecht.

Meines Erachtens müssen Journalisten den Lesern eine der Realität entsprechende Auswahl an Entscheidungsmöglichkeiten vorlegen, damit diese sich selbst ein Bild machen und eine eigene Meinung bilden können. Es braucht uns Journalisten nicht dazu, dem Leser zu sagen, was richtig oder falsch ist. Und wer das Gegenteil behauptet, wäre wohl besser beraten, wenn er umsattelt: vom Journalismus in die Politik.

Leserbeiträge

Richard Scholl 28. März 2014, 16:42

Frau Epp,
wie so viele Medienprofessoren, Medienschaffende, überschätzen Sie die Wirkung der Medien für die politische Meinungsbildung. Vom Staatsfernsehen und -rundfunk, der sehr einseitige Meinungen verbreitet, abgesehen, sind die meisten Presseerzeugnisse in der Schweiz klar auf einer Seite, jene, die am 9.2. mit 49 komma etwas gewonnen hat.
Frau Epp, wir Eidgenossen bilden unsere Meinung in der Wirklichkeit: die enorme Bauerei, die zunehmende Anzahl von eingewanderten Arbeitslosen, IV-Bezügern, Kriminellen, Sozialhilfebezügern, integrationsunwilligen Gästen und so weiter.
All dies stellen wir fest, ohne Medien.