von Nick Lüthi

Service public: Man weiss erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat

Ein Experiment in Grossbritannien zeigt: Das Angebot der BBC lernt erst so richtig schätzen, wer darauf verzichten muss. Eine wichtige Erkenntnis auch für die Mediendebatte hierzulande.

Was wäre, wenn … Ja, was wäre, wenn es kein öffentliches Radio und Fernsehen gäbe, also in der Schweiz keine SRG mehr? Diese Frage stellte sich 2018 im Zusammenhang mit der «No Billag»-Initiative nicht nur hypothetisch, sondern ganz konkret. Die Folgen einer Schweiz ohne SRG blieben damals reine Spekulation. Während die eine Seite blühende Medienlandschaften vorhersagte ohne Gebührenmedien, sah man auf der anderen die Demokratie in Gefahr ohne öffentlich finanzierten Rundfunk. Bekanntlich ist keines der beiden Szenarien eingetroffen. Die Abschaffungsinitiative fand keine Mehrheit beim Stimmvolk. In abgeschwächter Form stellt sich die Frage demnächst wieder. Was wäre, wenn die SRG nur noch halb so viel Geld erhielte? Und wieder wird man hüben und drüben vorauszusagen versuchen, was wäre, wenn.

Da 90 Prozent der britischen Bevölkerung die Angebote der BBC nutzen, können sie deren Bedeutung nur schwerlich einzuschätzen.

Die Auswirkungen auf Gesellschaft, Medienlandschaft und Demokratie lassen sich nicht simulieren. Einfach mal drei Monate den Betrieb einstellen, um zu sehen, was dann allenfalls fehlt, geht natürlich nicht. Was sich hingegen bewerkstelligen lässt, ist der vorübergehende Entzug aller Angebote eines öffentlichen Rundfunkanbieters für einzelne Personen, respektive Haushalte. In Grossbritannien hat die BBC dieses Experiment nach 2015 kürzlich zum zweiten Mal durchführen lassen.

Und das ging so: 80 Haushalte durften während neun Tagen keine einzige Radio- oder TV-Sendung, keine Online-Angebote und auch keine Social-Media-Dienste der BBC nutzen. Solche Deprivationsstudien dienen dazu, den Nutzen von Produkten und Dienstleistungen aufzudecken, die Menschen gewohnheitsmässig verwenden, ohne sich über ihren Wert bewusst zu sein. Da 90 Prozent der britischen Bevölkerung die Angebote der BBC in der einen oder anderen Form nutzen und weil die BBC für die überwiegende Mehrheit schon immer da war, können sie deren Bedeutung nur schwerlich einzuschätzen. Die Studie soll hierzu Erkenntnisse liefern.

Der Zeitpunkt kommt natürlich nicht zufällig. Wie in vielen Ländern Europas sieht sich in Grossbritannien der öffentliche Rundfunk unter politischem Druck. Im Fokus steht – wie auch in der Schweiz – die Finanzierung über gesetzlich verordnete Gebühren oder Abgaben.

Das Experiment zeigt nun, dass jene Haushalte, welche die Rundfunkgebühr abschaffen oder senken wollten, ihre Haltung revidieren. 42 der 60 gebührenkritischen Haushalte (70 Prozent) zeigten sich nach neun Tagen BBC-Entzug bereit, die volle Gebühr oder sogar mehr zu zahlen, um weiterhin BBC-Inhalte und -Dienste zu erhalten. Dieses Ergebnis deckt sich mit jenem einer identischen Studie von 2015. Man weiss also erst, was man hatte, wenn man es nicht mehr hat.

Wenn die Leute eine Dienstleistung erst dann schätzen, wenn man sie ihnen entzieht, dann heisst das auch, dass etwas mit der Markenpflege nicht stimmt.

Eine wichtige Rolle beim Gesinnungswandel spielte das Radioangebot der BBC. Zum einen realisierten viele Haushalte erst beim Entzug, wie intensiv sie diese Sender eigentlich nutzen. Zum anderen störte sie die Werbung in den privaten Programmen, die sie während des Experiments nutzen mussten. Ähnlich verhielt es sich mit den Online-Diensten der BBC, die im Alltag vieler Britinnen und Briten eine wichtige Rolle spielen, sei das für die Wettervorhersage oder Sportresultate.

Für die BBC mag das Ergebnis auf den ersten Blick erfreulich erscheinen. Aber es weist auch auf ein Problem hin, das alle öffentlichen Rundfunkanbieter betrifft, die ihr Angebot inzwischen auf den unterschiedlichsten Kanälen und Plattformen verbreiten. Wenn die Leute eine Dienstleistung erst dann schätzen, wenn man sie ihnen entzieht, dann heisst das auch, dass etwas mit der Markenpflege nicht stimmt. So lässt sich auch erklären, dass jene Haushalte mit dem geringsten Wissen über das BBC-Angebot ausserhalb des Fernsehens – einschliesslich Radio und BBC-Online – am ehesten für eine Abschaffung der Gebühr sind. Ganz generell hängt die Haltung zur Rundfunkgebühr in erster Linie davon ab, wie zufrieden die Menschen mit dem Fernsehangebot der BBC sind. In der Schweiz dürfte das kaum anders sein. Auch hier steht das Fernsehen in der öffentlichen Diskussion stellvertretend für die ganze SRG.

Eine vergleichbare Studie in der Schweiz könnte wertvolle Daten für die Servie-public-Debatte liefern.

Ob auch Schweizer Haushalte, welche die Medienabgabe am liebsten abschaffen würden, ihre Haltung änderten, wenn sie erst merkten, was die SRG alles bietet, fände man natürlich erst mit einer eigenen Studie heraus. Mit Blick auf die anstehende Halbierungsinitiative wäre das sicher keine dumme Investition – eine solche Studie könnte wertvolle Daten für die Servie-public-Debatte liefern. Und während in Grossbritannien dem Experiment der Makel der Auftragsforschung anhaftet, könnte die Forschung in der Schweiz ganz ohne SRG-Auftrag ans Werk gehen.

Leserbeiträge

alain gfeller 09. Mai 2022, 13:16

Von den SRG-Recherchen profitieren auch private Medien.
Die SRG hat schon viele Recherchen publiziert, die von anderen Medien übernommen und / oder weiterrecherchiert wurden. 
Recherchieren kostet. Und Medien stehen unter Spardruck. Es braucht also auch eine SRG, die manchmal eine Recherche beginnt und das Risiko eingeht, dass am Ende nichts dabei rauskommt. 
Die Crypto-Affäre z.B. ist – wenn ich mich nicht irre – eine SRF-Recherche. Aufwendig und teuer. Die anderen Medien habe diese Recherche gerne aufgenommen. Während Wochen wurde darüber geschrieben und gesprochen. Eine Recherche, die sich nur ganz wenige Medienhäuser leisten würden (das ist natürlich meine subjektive Meinung. Ich habe keine Belege dafür). 
Aber sicher ist: Die SRG leistet indirekt einen grossen Dienst an alle anderen Medienhäuser in der Schweiz. Das wird oft vergessen.