Ein Hoch auf das Sommerloch!
Das Sommerloch ist ein Glücksfall für den Journalismus. Selten berichten Medien entspannter und hintergründiger. Aus einem einfachen Grund: Sie haben Zeit, können in der Berichterstattung eigenständige Akzente setzen und müssen nicht im Hamsterrad Aktualitäten abspulen.
Pünktlich zum Sommerbeginn öffnet sich jeweils bedrohlich das Sommerloch, das den Restgehalt an Qualität in den Medien zu verschlingen droht. Weil der Politik- und Parlamentsbetrieb pausiert, füllen sich die Zeitungsspalten und Sendeminuten noch mehr als sonst mit Meldungen über Tierchen, Sternchen, Sex & Crime und anderer Belanglosigkeit. In Ermangelung harter Stoffe nimmt das Softe überhand, was die Medienkritiker zur Klage veranlasst, die da im netteren Fall lautet: «Sommerpause an, Hirn aus». So weit so schlecht. Nur: Was hat das mit der Realität zu tun? Wenig bis nichts. Denn das sogenannte Sommerloch ist die beste Zeit für den Journalismus. Wers nicht glaubt, lese Zeitung, höre Radio oder schaue fern.
Wenn der Aktualitätsdruck nachlässt, die Blattumfänge und Sendezeiten aber bleiben, dann sind Redaktionen zur Kreativität gezwungen. Sie können sich nicht mehr auf einen stetigen Nachrichtenfluss verlassen, der ihnen den Arbeitstakt vorgibt. Das ist ein Glücksfall für den Journalismus. Denn nun zeigt sich, wer aus dem vermeintlichen Nichts, etwas zu schaffen weiss. Geschichten aufspüren, die noch niemand erzählt hat, Themen aufs Tapet bringen, für die sonst keine Zeit bleibt, das machen landauf landab Redaktionen im Sommer. Tageszeitungen, Radio und Fernsehen planen die Sommermonate so aufwändig und intensiv, wie sie selten sonst im Jahr ihre Berichterstattung vorbereiten. Das allein bietet freilich noch keine Garantie für Qualität. Auch Sommerserien können so seicht daherkommen wie die durchschnittliche Saure-Gurken-Meldung. Uninspiriert und als Pflichtübung runtergeschrieben lesen sich die Beiträge der NZZ-Sommerserie zu den geografischen Mittelpunkten der Schweizer Kantone. Auch «Die Wasserratten» von Schweiz aktuell zählen sicher nicht zu den Höhepunkten des Mediensommers 2012.
Doch ein Blick in die übrige Medienlandschaft zeigt mehrheitlich ein anderes Bild. Die Sommer-Serien in Zeitungen, Radio oder Fernsehen sind mehr als nur Lückenbüsser für eine nachrichtenarme Zeit: sie bieten Journalismus, wie es ihn in den übrigen zehn Monaten des Jahres zu selten gibt; lange und hintergründige Formate, langsame und unaufgeregte Geschichten, die beim Publikum einen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als der hochtourige Hamsterradjournalismus. Die folgenden vier Beispiele sind auch als Plädoyer für mehr Sommer im ganzen Jahr zu verstehen.
«Le Temps»: Seriensommer
Die Westschweizer Qualitätszeitung zieht alle Register: nicht weniger als 19 redaktionelle Sonderefforts leistet «Le Temps» diesen Sommer. Von der Serie über die «Bösen in der Schweizer Geschichte», angefangen mit einer historischen Recherche über den Inquisitor Ulric de Torrenté, über eine brandaktuelle Artikelfolge zur Geschichte der Staatsverschuldung bis zur Serie über die grossen Redner der Weltgeschichte. Auf diesem Niveau geht der Serienreigen weiter.
«Berner Zeitung»: «Senioren-Sommer»
Seit Anfang Juli widmet sich die «Berner Zeitung» ausführlich und thematisch breitgefächert den Lebenswelten älterer Mitmenschen. Dazu verbrachte ein Redaktor eine Woche im Altersheim, von wo er im Tagesrhythmus berichtet. Leserinnen und Leser der BZ können dem ältesten Ehepaar der Schweiz Fragen zukommen lassen, die eine Redaktoren den beiden über Hundertjährigen stellt. Und auch die Aktualität kommt nicht zu kurz: Im Sportressort fand sich anlässlich er OL-WM in Lausanne das Porträt eines der Kurssetzer – ein 66-jähriger ehemaliger Spitzenläufer.
Rundschau (Schweizer Fernsehen): «Mission Reporter»
Hartnäckig nachfragen, Autoritäten in Frage stellen und unbeirrbar berichten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen – koste es, was es wolle. Das ist Journalismus. In Mexiko oder Russland setzt das Leben aufs Spiel, wer das Medienhandwerk so ausübt. Die «Rundschau» zeigt in ihrer Sommerserie, was es heisst, in diesen Ländern als Journalist zu arbeiten. Als Beispiel für einen Schweizer Journalisten, der nicht locker lässt und seit Jahr und Tag Aufklärungsarbeit leistet, folgt zum Schluss der Sommerserie ein Porträt des Sektenspezialsten Hugo Stamm.
Echo der Zeit (Schweizer Radio): «20 Köpfe, 20 Ideen»
Während vier Sommerwochen gibt das Nachrichten-Flaggschiff vom Schweizer Radio für einmal die Zügel aus der Hand. In einer Serie mit zwanzig Gastbeiträgen präsentieren mehr oder weniger prominente Figuren aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ihre Vorstellungen von der Zukunft der Schweiz. Auch wenn die Qualität der einzelnen Statements, sowohl was Machart als auch den Inhalt angeht, stark schwanken, ist es dem Echo gelungen, ein Panoptikum des gegenwärtigen Schweizer Geistesleben zu zeigen. Erfrischend: Die üblichen Verdächtigen, Experten aller Couleur, kommen nicht zu Wort, dafür Figuren aus der zweiten Reihe, Macherinnen und Macher, die wirklich etwas zu sagen haben. Hörtipp: Gerhard Schwarz (Avenir Suisse, Ex-NZZ) und seine Idee gegen verstopfte Züge und Strassen.