von Nick Lüthi

Der «Herr der Quoten» stellt kritische Fragen

Der langjährige SRG-Forschungsleiter und Telecontrol-Erfinder Matthias Steinmann kommentiert die verfahrene Situation um die Einführung einer neuen Erhebungsmethode für die TV-Zuschauerzahlen. Als möglichen Ausweg aus dem Desaster sieht er den Abbruch der Übung.

Erst einmal hat er sich bisher öffentlich dazu geäussert. Ende Februar nahm Matthias Steinmann im Sonntagsblick kurz Stellung zu den Problemen mit der Einführung einer neuen Erhebungsmethode für die TV-Zuschauerzahlen in der Schweiz. Ansonsten hat sich der altgediente Medienforscher wohlweislich zurückgehalten, nachdem sich die Stiftung Mediapulse gegen das von ihm entwickelte Telecontrol-System entschieden hatte.

Seit Anfang Jahr sollte die Firma Kantar verlässliche Zuschauerzahlen liefern. Die Zahlen gibt es inzwischen, aber die Branche hat kein Vertrauen in die neue Quote. Nicht nachvollziehbar halten Sender und Vermarkter die teils starken Abweichungen gegenüber den früheren Werten. Ein Teil der Regionalsender will deshalb auf die Dienste von Mediapulse und Kantar verzichten. Andere wiederum blockieren die Veröffentlichung der angezweifelten Zuschauerzahlen auf gerichtlichem Weg.

Angesichts der tiefgreifenden Vertrauenskrise wollte Steinmann nicht mehr länger schweigen. In einer Stellungnahme, die er ehemaligen Mitarbeitern und Geschäftspartnern hat zukommen lassen, geht der Medienforscher mit seinen Nachfolgern hart ins Gericht. Das zehnseitige Dokument wurde ohne Wissen Steinmnns auf einem Blog veröffentlicht. Gegenüber der MEDIENWOCHE hat Steinmann die Autorschaft bestätigt. Darüber hinaus wollte er aber nicht Stellung nehmen.

Das Dokument, das der Doyen der schweizerischen Publikumsforschung als «persönliche Gedanken» verstanden wissen will, lässt an der Arbeit von Kantar und Mediapulse keinen guten Faden: «Das ganze ‚Desaster‘ ist meiner Ansicht nach die Folge einer falschen Strategie.» Damit meint Steinmann den Entscheid, mit einer neuen Firma und einer komplett neuen Methode bei null zu beginnen, anstatt das Bestehende weiterzuentwickeln. Da die «Schweizer TV-Forschungsverhältnisse zu den kompliziertesten der Welt gehören», sei «spezifische Erfahrung» mit den lokalen Bedingungen eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg. Wenig verwunderlich also, tut sich eine Firma schwer, die erstmals im Schweizer Markt tätig ist. Was Steinmann meint, ist klar, ohne dass er es explizit schreibt: Mit seinem Telecontrol wäre es nie zu einem vergleichbaren Desaster gekommen.

Nun überrascht es zuerst einmal wenig, wenn Steinmann das eigene Produkt für die bessere Lösung hält. Um dem Eindruck der Befangenheit entgegenzutreten, verweist Steinmann auf sein Rentnerdasein und das getrübte Verhältnis zur Telecontrol-Firma GfK, mit der er einen mehrjährigen Rechtsstreit ausgefochten hatte. Dass ihm nicht an einer Abrechnung gelegen ist, zeigt auch der sachliche Ton Schreibens. Frei von Ressentiments stellt Steinmann Fragen und kommentiert die Vorgänge rund um die neu aufgestellte TV-Forschung.

Aus seinen Beobachtungen schliesst der ehemalige Medienprofessor, dass wissenschaftliche Grundvoraussetzungen schlicht nicht erfüllt seien. Mängel sieht Steinmann insbesondere beim Aufbau des Panels. Es bilde die Realität nicht ausreichend ab, mit der Folge, dass die erhobenen Daten weder reliabel noch ausreichend valide seien. Also im Prinzip unbrauchbar, weil nicht das gemessen werden kann, was zu messen vorgegeben wird.

Schliesslich durchkreuzt Steinmann zwei zentrale Argumentationslinien der Firma Mediapulse. Immer wieder warnten die Medienforscher davor, die neuen Zuschauerzahlen mit den alten zu vergleichen und daraus Aussagen über Zugewinne oder Verluste ableiten zu wollen. Steinmann hält dazu fest: «Diese Vergleiche können von Fachleuten durchaus durchgeführt werden.» Auch bei der Frage zum Parallelbetrieb sieht es Steinmann anders. Mediapulse hatte eine Überlappung von alter und neuer Messmethode auf einen Monat beschränkt. Ein längerer Parallelbetrieb hätte in der Branche für Verunsicherung gesorgt, da zwei «Währungen» gleichzeitig im Markt kursierten. Steinmann findet einen Parallelbetrieb gerade deshalb wichtig, um Vertrauen in die neue Methode zu schaffen.

Trotz zahlreicher Anregungen und Vorschläge, wie die verfahrene Situation doch noch zu retten wäre, stellt Steinmann zum Schluss die rhetorische Frage, «ob nicht ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorzuziehen wäre.» Was das genau heisst, lässt der Medienforscher offen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er damit primär personelle Massnahmen meint. In dem Sinn könnte man die unerbetene Stellungnahme auch als Blindbewerbung um eine Rolle als Troubleshooter lesen. Mediapulse-Verwaltungsratspräsident Marco de Stoppani signalisierte schon im Februar gegenüber der Weltwoche, dass er bereit wäre, das Feld zu räumen, «sollte es der Sache dienen». Dass es Steinmann um die Sache geht, hat er mit seinem Schreiben deutlich deklariert.

Leserbeiträge

bugsierer 09. Mai 2013, 16:38

ich habe das stück von herr steinmann gelesen. sehr lehrreich, dieser einblick in die zuschauerforschung, kann ich allen medieninteressierten nur empfehlen.

sein urteil ist ein gewaltiger schuss vor den bug von mediapulse & co. der unaufgeregte ton, die darlegung von null interessenbindung und die unbestritten hohe kompetenz von steinmann machen seine kritik brutalstmöglich. quasi das sahnehäubchen auf dem ganzen desaster.

was auffällt: das dokument wurde am 3.5. geleakt und die medienszene (ausser hier) sowie die betroffenen schweigen lauthals. bis vor kurzem wurde doch zu diesem thema jeder furz breit kommentiert…? oder hab ich was übersehen?

Vladimir Sibirien 09. Mai 2013, 18:00

Auch wenn ich mit meiner Meinung wohl alleine dastehe – aber das Schreiben von Herrn Steinmann ist völlig daneben.

So sehr er sich auch bemüht seine Unparteilichkeit herauszustreichen, so sehr bedient er sich mit wertenden Ausdrücken wie Desaster, die letztlich nichts anderes bewirken als das neue System herabzusetzen. Ja, Sie sind kompetent und können Ihre Meinung sagen – tun Sie’s einfach.

Und schliesslich behaupte ich stinkfrech, dass beide falsch liegen. Audiomatching ist irgendein schräges Ding, Signete erkennen und Knöpfsche drücken sowas von Asbach. Die Zuschauerquoten kann man bei IPTV direkt beim Anbieter abgreifen und anonymisieren. Dann wird die Sendermafia nämlich auch merken, dass bei Werbung der Ton aus ist oder der Sender gewechselt wurde, und zwar mit Trefferquote 100%. Zusätzlich böte sich die Möglichkeit, einen Knopf auf der Fernbedienung zu integrieren mit der Aufschrift „Heute nur Sch***** im Fernsehen“, mit dessen Hilfe sich neben der Zuschauerquote auch noch eine Mir-reichts-Quote berechnen liesse. Dass IPTV nicht alle Zuschauer erreicht (und wahrscheinlich bestimmte Zuschauergruppen im Besonderen) kann ein Statistiker berechnen und in toto Samschtig Jass anrechnen.

Vladimir Sibirien 09. Mai 2013, 18:05

„wertender Ausdrücke“ wollte ich sagen. Tschuldigung.

Ueli Custer 12. Mai 2013, 15:41

Sorry, lieber Vladimir Sibirien
Wenn man so offensichtlich nicht die geringste Ahnung von den Zusammenhängen hat, sollte man das Kommentieren in einem Fachblog doch besser unterlassen.

Leo Nauber 10. Mai 2013, 15:52

Ausser denen, die konsequent nur nach Osten sehen,, sind doch die meisten Kabelfernseher – auf jeden Fall genügende, um repräsentativ zu sein. Warum misst man nicht einfach diesen Kanal plus was Swisscom und Co. über die Luft verbreiten.
Zusammenzähle bzw. summieren kann, falls die Leute das verlernt haben, Excel von Microsoft.
Dann wird es halt für reine Werbesender, angereichert mit Volksverdummung noch schlimmer.